Offener Brief: Für die Einführung des Selbstbestimmungsgesetzes

An die Abgeordneten des Bundestages,
 
hiermit möchten wir Sie auf den neuen Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen hinweisen, welches die Abschaffung des sogenannten Transsexuellengesetzes (TSG) und die Einführung eines neuen Selbstbestimmungsgesetzes (SelbstBestG) anstrebt (Drucksache 19/19755). Nach Angaben der Bundestagsverwaltung findet die erste Beratung zum Gesetzesentwurf am 19. Juni 2020 statt.
 
Am 17. Mai 1990 beschloss die Weltgesundheitsorganisation, Homosexualität von der Liste psychischer Krankheiten zu streichen. Seit 30 Jahren begeht die LGBTQI+ Community den Internationalen Tag gegen Homo-, Bi, Trans- und Interphobie.
Seit 2019 lehnt WHO auch die Pathologisierung transgeschlechtlicher Menschen ab. Dass seit 40 Jahren gültige TSG beeinträchtigt und diskriminiert Betroffene immer noch in erheblichem Maße, sodass bisher das BVerfG einzelne Vorschriften des TSG für verfassungswidrig erklärt hat.
 
Während neben rechtlichen Hürden auch der Zugang zu medizinischer Versorgung für geschäftsfähige Erwachsene trans Menschen erschwert wird, werden in Deutschland nach wie vor genital-verändernde Operationen an intergeschlechtlichen Kindern mit anschließender Hormontherapie in der Jugend vorgenommen. Diese Eingriffe sind medizinisch nicht indiziert und verursachen erhebliche Traumata. Trans- und intergeschlechtliche Menschen werden erheblich in ihrem Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt. 
 
Das Grundgesetz schützt als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) das Grundrecht auf Geschlechtsidentität (ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 49, 286, zuletzt auch außerhalb der Geschlechterbinarität BVerfGE 147, 1), das sich im Übrigen auch aus den menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands ergibt (vgl. statt vieler EGMR, Urteil vom 11. Juli 2002, Nr. 28957/95). Die Bedeutung dieses Rechts erstreckt sich nicht nur auf das Personenstandsrecht, sondern allgemeiner auf alle möglichen Lebenslagen, in denen Geschlecht ein dem Staat gegenüber relevantes Merkmal darstellt, beispielsweise im Hinblick auf Geschlechtsangaben durch Sozialversicherungen (EGMR, a.a.O.) oder auf die Anrede durch Behörden (BVerfG, NJW 1997, 1632).
Insbesondere dient das Recht auf Geschlechtsidentität dazu, einen diskriminierungsfreien Alltag zu ermöglichen, indem es ein Auseinanderfallen von rechtlichem und sozialem Geschlecht vermeidet. Dadurch soll verhindert werden, dass Personen in Situationen, in denen beispielsweise Ausweispapiere eine Rolle spielen, zwangsweise als trans oder inter geoutet werden. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sehr deutlich formuliert, dass ein „Konflikt zwischen der sozialen Wirklichkeit und dem Recht“ vermieden werden soll, weil dieser Konflikt „Gefühle von Vulnerabilität, Demütigung und Furcht“ mit sich bringt (EGMR, a.a.O., Rz. 77). Auch das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass rechtliche Regelungen, die zu einem Zwangsouting als trans oder inter führen, verfassungswidrig sind (BVerfGE 128, 109).
Unter anderem der Verhinderung eines solchen Zwangsoutings dient die Möglichkeit der Änderung des Personenstands, wie sie insbesondere in § 45b PStG vorgesehen ist. Um die sonst möglichen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen in Alltagssituationen zu vermeiden, ist jedoch auch die Änderung anderer im Alltag relevanter Dokumente mit Geschlechtsangabe unabdingbar. Dem entspricht der oben dargestellte breite Schutzbereich des Rechts auf Geschlechtsidentität.
Diese grundrechtlichen Überlegungen binden selbstverständlich nicht nur die Legislative, sondern alle öffentlichen Stellen inklusive Verwaltung (BVerfG, NJW 1997, 1632) und Gerichte (BVerfG, StAZ 2012, 80) und somit auch die Ausländer*innenbehörden. 
 
Das TSG stellt bereits weiße, deutsche Staatsbürger*innen vor immensen finanziellen und emotionalen Herausforderungen. Insbesondere migrantische Gruppen, Schwarze Menschen und People of Color sind historisch, sozial, wirtschaftlich und rechtlich mit den Anforderungen des TSG in erheblichem Maße vor unzumutbaren Hürden gestellt.
 
Die Vornamens- und Personenstandsänderung erfordert bislang zwei Begutachtungen, deren Kosten von den Betroffenen selbst getragen werden müssen. Diese bewegen sich in der Regel im vierstelligen Bereich. In den Begutachtungen wird fließendes Deutsch insofern vorausgesetzt, da über komplexe Themen wie Geschlechtsrollen und Stereotype gesprochen wird. Neben der sprachlichen Barriere, divergieren die Vorstellungen der Gutachter*innen mit dem Selbstverständnis der Betroffenen, da beispielweise die binäre Geschlechtszuordnung sowie Geschlechterrollen in den Begutachtungsrichtlinien aus einem westlich-kolonialen Wertekanon entspringen. BIPoC haben Zugang zu ihren historischen und sozialen Geschlechtern, die einer binären Zuordnung zuwiderlaufen. Dies stellt Betroffene vor eine unzumutbare Härte, da sie sowohl auf rechtliche als auch medizinische Anerkennung angewiesen sind.
 
Nach unserer Auffassung ergibt sich aus der Wichtigkeit der rechtlichen und medizinischen Anerkennung der geschlechtlichen Identität, im Folgenden durch das korrekt ausgewiesene Geschlecht in Ausweisdokumenten für das Alltagsleben von trans und inter Personen eine besondere Dringlichkeit, welche die fehlende Anerkennung als unzumutbare Härte erscheinen lässt. Die negativen Auswirkungen des Fehlens eines solchen Dokuments, wie sie Betroffene beschreiben, insbesondere Schikanen durch Ausländer*innenbehörden in Ihrem Wahlkreis sowie durch die Polizei, am Arbeitsplatz, in Schule und Ausbildung, bilden genau das ab, was das Bundesverfassungsgericht sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ihrer Rechtsprechung als unerträglich betrachten.
 
Das neue SelbstBestG soll den Aufwand für Staat und Betroffene minimieren. Der Gesetzesentwurf dient mithin der Selbstbestimmung von inter, trans und nicht-binären Menschen und beruht darüber hinaus auf wissenschaftliche Erkenntnisse und der ständigen Rechtsprechung des BVerfG und EGMR. Insbesondere ist begrüßenswert, dass der Gesetzesentwurf genital-verändernde Eingriffe bei Kindern verbietet, von der Begutachtung freistellt sowie Zwangsoutings sanktioniert.
 
Wir appellieren an Ihre Vernunft und an Ihr Gewissen. Die Selbstbestimmung von trans und inter Menschen sollte eine Selbstverständlichkeit sein. In Anbetracht des Pride-Monats, in Angedenken an die Stonewall-Riots vor 51 Jahren, ist die Selbstbestimmung von queeren, trans und inter Menschen längst überfällig. Folgen Sie dem Beispiel anderer europäischer Länder wie Malta und Dänemark. Folgen Sie dem Beispiel indigener Völker. Setzen Sie ein Zeichen für die Würde des Menschen.
 
Es wäre von enormer Bedeutung, dass der Gesetzesentwurf von Ihnen und Ihren Fraktionen in der kommenden Lesung und im zuständigen Ausschuss unterstützt wird. Wir wünschen ausdrücklich eine namentliche Gewissensabstimmung.
 
Decolonize Marburg!
16.06.2020

Rede von Decolonize Marburg! zur Kundgebung gegen Rassismus am 06.06.2020

Unser Beitrag zur Kundgebung anlässlich der George-Floyd-Riots und den antirassistischen Kämpfen in den USA, in Frankreich und in der ganzen Welt hier zur Nachlese. Wir danken den Genoss*innen von Women Defend Rojava Marburg und der Gruppe dissident (IL) für die Unterstützung bei der Organisation der Kundgebung, an der insgesamt über 1500 Menschen teilnahmen. Continue reading Rede von Decolonize Marburg! zur Kundgebung gegen Rassismus am 06.06.2020

8. Mai: Tag der Befreiung, Tag des Zorns, Tag des Widerstands

In unterschiedlichen europäischen Ländern gilt der Jahrestag des 8. Mai 1945, der Tag der Befreiung vom nationalsozialistischen Faschismus Deutschlands als ein Gedenkund Trauertag. Heute am 75. Jahrestag der Befreiung möchten wir jedoch nicht nur trauern, sondern auch unsere Wut, Enttäuschung und Angst kundtun. 
 

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Internationaler Tag gegen Rassismus am 21. März 2020

1966 wurde der 21. März zum Internationale Tag gegen Rassismus erklärt. Auf den Tag genau sechs Jahre zuvor fand das „Massaker von Sharpeville” im Jahr 1960 in Südafrika statt. Während einer Demonstration gegen die Apartheidgesetze schossen Polizisten in die Menge und tötete 69 Menschen, weitere 180 Menschen wurden verletzt. Heute, am 21. März 2020, ist der 60ste Jahrestag des Massakers.

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