8. Mai: Tag der Befreiung, Tag des Zorns, Tag des Widerstands

In unterschiedlichen europäischen Ländern gilt der Jahrestag des 8. Mai 1945, der Tag der Befreiung vom nationalsozialistischen Faschismus Deutschlands als ein Gedenkund Trauertag. Heute am 75. Jahrestag der Befreiung möchten wir jedoch nicht nur trauern, sondern auch unsere Wut, Enttäuschung und Angst kundtun. 
 

 
Am 19.02. sind in nicht einmal ein anderthalb-stündiger Entfernung von Marburg 10 Menschen of Colour ermordet worden. Für die weiß-deutsche Mehrheit war das Ereignis ein „Weckruf“. Was vielen erst durch die Morde in Hanau deutlich wurde, ist für uns BIPOC* und Migrant*innen jedoch Alltag. Die alltägliche Angst und Wut, die das Ertragen und Kämpfen mit Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus mit sich bringen, ist nichts Neues für uns. 
 
Auch in Marburg finden unterschiedlichste Angriffe auf kanackisches Leben, migrantisches Leben und schwarzes Leben statt! Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe, der Herkunft, der Sprache, der Nationalität, der Religionszugehörigkeit und der Kultur sind unser Alltag. Unser Leben wird immer unter Generalverdacht gestellt, unsere bloße Existenz verurteilt und beurteilt. Aufgrund unseres Daseins werden wir ständig von der Polizei oder der Zivilgesellschaft angegangen. Heute sind wir wütend! Heute sind wir laut! Heute sind wir es, die zeigen, wie der Alltag in Marburg für uns aussieht: 
 
An den Lahntreppen sind wir Opfer von Racial Profiling: Ständig werden dort kanackische Personen von der Polizei angemacht, zur Kontrolle gezwungen und schikaniert. Racial Profiling heißt rassistische Polizeigewalt und ist demütigend und erniedrigend!. Hört auf, bloß mitzuschauen, mischt Euch ein und werdet laut
 
Im Zug nach Frankfurt am Main wird uns Falschfahren unterstellt: Ständig sind es immer wir, die nach unseren Ausweisen gefragt werden. Migrantische Familien werden beleidigt, wenn sie das Hessenticket nicht richtig ausfüllen. Niemand nimmt Rücksicht, keine*r bietet Hilfe an. Hört auf, bloß mitzuschauen, helft den Betroffenen! 
 
In der Ausländer*innenbehörde sind die Beamt*innen überfordert oder hören uns einfach nicht zu! Die Zustände dort sind nicht zu ertragen! Die Stadt muss mehr Stellen schaffen und die Angestellten müssen lernen zuzuhören! Schafft Räume für migrantische Menschen in und um Marburg! Wir fordern eine unabhängige Beratungsstelle für von Rassismus betroffene Menschen. 
 
In Seminaren in der Uni werden wir ausgelacht oder nicht ernst genommen: Die Ausdrucksweise von migrantischen Studis wird an der Uni nicht als akademisch tauglich definiert. Nicht selten scheint unser Deutsch für unsere Dozierenden nicht „ausreichend“ genug und wir werden auf Hilfe durch Muttersprachler*innen verwiesen. Wir werden entmächtigt und bloßgestellt. Ständig werden wir von Dozierenden klassistisch sowie rassistisch diskriminiert! Helft euren Freund*innen und sprecht Dozierende auf ihr Fehlverhalten an! Auch an der Uni Marburg wird in der Lehre viel zu wenig über Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus gesprochen. Es reicht nicht, sich selbst ein linkes oder gar antirassistisches Institut zu nennen, ohne Farbe zu bekennen! Alle Dozierenden der Uni sollten verpflichtet werden an Anti-Diskriminierungsworkshops teilzunehmen!  
 
Auf der Arbeit sind wir billige Arbeitskräfte: Migrantische Personen müssen meist mehr und besser arbeiten, um für die gleichen Ergebnisse, die gleiche Anerkennung wie weiße zu erzielen. Es sind vermehrt migrantische Personen, ausländische Student*innen und Auszubildende, die in prekären Arbeitsverhältnissen sind. Denn vor allem wir sind es jetzt, die wegen Corona in Kurzarbeit gedrängt oder gar entlassen werden. Viele von uns sind jetzt in finanziellen Notlagen, da unsere Familie uns nicht unterstützen können. Wir fordern: Keine Auszubildenden in Kurzarbeit! Ausreichende Notlagen für Studis und Arbeiter*innen! Sexarbeiterinnen*, viele mit Migrationshintergrund, werden schikaniert und bangen in Zeiten von Corona um ihre Existenz. Schafft sichere Orte für Sexarbeiterinnen*! 
 
In Stadtfesten sind wir nicht willkommen: Der „Grenzgang“, das rassistische Volksfest in Biedenkopf, wurde vom Land verharmlost und Beschwerden migrantischer Personen kleingeredet. Wenn die Darstellung einer blackfaced Person, die von Deutschen gejagt wird, von der Landrätin selbst als „wichtige Tradition“ dargestellt wird, bleibt uns nur Angst, Fassungslosigkeit und Wut. Wie können rassistische Aktionen auf der Straße derartig ignoriert werden? Verbietet dieses rassistische Fest! 
 
Auf Wohnungssuche haben es gerade Geflüchtete besonders schwer, auch in Marburg: Wir finden es peinlich, wie wenig Mühe die Stadt sich gibt Geflüchtete aus den Erstankünften aufzunehmen! Anstatt einige wenige Minderjährige in wochenlange Quarantäne zu stecken sollten endlich Mittel geschafft werden, um ein würdevolles Leben möglich zu machen. Marburg hat Platz! Refugees Welcome! 
 
Wie in Hanau auf einer Rede treffend klargestellt wurde: „Rassismus ist kein Gift in dieser Gesellschaft, sondern Rassismus ist ihr Zement.“ Ob institutionell, strukturell oder im Alltag: Wir spüren den Rassismus in Marburg und in ganz Deutschland! Für uns hat es Hanau nicht gebraucht, um den Gefühlsmix, den unsere weiß-deutschen Mitbürger*innen teilweise erst jetzt für sich entdecken, zu spüren. Es wird für uns auch kein weiteres Hanau oder Halle nötig sein, um diese Gefühle aufrecht zu erhalten. Es braucht daher einer Unterbrechung des Alltags der weiß-deutschen Bevölkerung, die Solidarität und Empathie fordert, ohne Menschenleben zu fordern. Lasst uns den 8. Mai als Tag der Befreiung vom Faschismus dafür nutzen, die Alltäglichkeit der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft zu unterbrechen, um uns und unsere Alltäglichkeit sichtbar zu machen! Wir wollen den Schmerz nach außen tragen, den wir jeden Tag mit uns tragen und zeigen, dass ohne uns die Welt still steht! 
 
Heute fordern wir Euch auf, uns den Raum zu geben und gemeinsam mit uns zu streiken! Ihr könnt Euch solidarisch zeigen, in dem ihr unsere Stadt mit Bannern beschmückt, Kreidespuren hinterlässt oder in den Sozialen Medien aktiv werdet. Hört nicht auf, Rassismus zu benennen! Fangt an euch einzumischen! Fangt an uns zuzuhören!
 
 Decolonize Marburg
 

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